M. Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg

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Titel
Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945-1963


Autor(en)
Greschat, Martin
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Claudius Kienzle, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Seminar für Zeitgeschichte Wilhelmstr. 36 72074 Tübingen

Im März 2012 sind zwei der wichtigsten Staatsämter der Bundesrepublik Deutschland, das des Bundespräsidenten und das der Bundeskanzlerin, mit Protestanten besetzt, die aus einem ostdeutschen Pfarrhaus kommen. Bei der Lektüre von Greschats Buch über den deutschen «Protestantismus im Kalten Krieg» wird deutlich, wie erstaunlich dieser Befund aus der historischen Perspektive ist. Erstaunlich ist er aus zwei Gründen. Zum einen hatte der deutsche Protestantismus der 1950er Jahre ein eher gespaltenes Verhältnis zu Staat und Politik der als katholisch dominiert wahrgenommenen Bundesrepublik. Zum anderen war die evangelische Kirche im anderen deutschen Staat so starken Repressionen ausgesetzt, dass ihr institutionelles Überleben gefährdet schien.

Diese zweifache Perspektive des Protestantismus in beiden deutschen Staaten wird in Greschats Untersuchung erstmals gemeinsam dargestellt. Der ausgesprochene Fachmann für kirchliche Zeitgeschichte wählt für den inhaltlichen Aufbau des Buches einen fast romanesken Ansatz, was durchaus als Kompliment gemeint ist. Zunächst entfaltet Greschat die weltpolitische Grosswetterlage, deren Einbeziehung für das Verständnis des Verhältnisses von Kirche zu Politik und Gesellschaft während des Kalten Krieges unerlässlich ist. Sodann führt er mit Adenauer und Ulbrich zwei Akteure ein, die ihre dramaturgische Rolle in der Tat bis zum Ende des Buches immer wieder ausfüllen. Fast scheint es, dass das Ende der Kanzlerschaft Adenauers auch zum Schlusspunkt der Darstellung wird, die ebenfalls bis zum Jahr 1963 geht. Scharfsinnig arbeitet Greschat die wesentliche Gemeinsamkeit beider Widersacher heraus, nämlich ihre unnachgiebige Blocktreue. Erst danach taucht – nach 75 Seiten – der erste Bezug zum Protestantismus auf. Und spätestens jetzt wird klar, wie hilfreich die breite Reflektion des weltpolitischen Zusammenhangs ist, denn sowohl die Westintegration der Bundesrepublik als auch die Ostintegration der DDR führte zu heftigen Reaktionen innerhalb des deutschen Protestantismus. Insbesondere bezüglich der Deutschlandpolitik formulierten Vertreter des Protestantismus im Vergleich zu den politischen Akteuren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs dezidiert konträre Antworten, die auf eine rasche Wiedervereinigung abzielten.

Greschat löst den Protestantismusbegriff von seiner gängigen Kirchenfixiertheit und plädiert für ein breiteres Verständnis, dass auch «alle diejenigen [...] dazuzählt, die mehr oder weniger bewusst [...] von den Traditionen dieser Konfession herkamen» (9). Gleichwohl kommen bei Greschat zunächst vor allem Kirchenführer und kirchenamtliche Texte zu Wort. Das hat auch insofern seine Berechtigung, als die Evangelische Kirche in Deutschland trotz der Existenz zweier deutscher Staaten eine Institution mit einer einheitlichen Führungsstruktur bildete. Auf diese Weise hatten ihr Führungspersonal, ihre Gremien und Organe genügend Gelegenheit die Entwicklungen in beiden Staaten reichlich zu kommentieren.

Die profunde Analyse dieser Verlautbarungen wirkt bisweilen merkwürdig unverbunden mit den Darstellungen des politischen Weltgeschehens. Dieser Umstand resultiert zum Teil aus der theologischen Semantik, die das zeitgenössische kirchliche Führungspersonal verwendete. «Der Protestantismus redete [...] oft betont religiös und theologisch» (11), wie Greschat treffend anmerkt. Dass die protestantische Rede sich meist auch und vor allem als politische Stellungnahme lesen lässt, hätte an der einen oder anderen Stelle pointierter zugespitzt werden können. Mitunter sind die Auslassungen der protestantischen Zeitgenossen, wie etwa Martin Niemöllers, aus der Rückschau jedoch so bizarr und – bezogen auf die tatsächlichen Problemlagen – derart unangemessen, dass es schwer fällt den Bezug zu den politischen und gesellschaftlichen Begebenheiten aufzuzeigen. Trotzdem ist es richtig, gerade auch die unwirklich anmutenden Positionen innerhalb des deutschen Protestantismus aufzuzeigen, zeigen sie doch, wie sehr die innerprotestantischen Konflikte der Nachkirchenkampfzeit von persönlichen Befindlichkeiten geprägt waren, die letztendlich zu einer «schwelenden Vertrauenskrise» (262) innerhalb der EKD führten.

Auch wenn die Behandlung von deutschland- und religionspolitischen Themen einen breiten Raum in der Darstellung einnimmt, bezieht Greschat auch frömmigkeits- und theologiegeschichtliche Entwicklungen ein. Hier wird der vergleichende Ansatz, der den Protestantismus im geteilten Deutschland als Ganzes analysiert, besonders fruchtbar, denn er zeigt, wie stark die auseinanderlaufenden Tendenzen bereits in den 1950er Jahren waren. Während sich die Protestanten im Westen mit fast schon hysterischen Debatten über die theologischen Ansätze Rudolf Bultmanns in einen künstlichen Kirchenstreit manövrierten, standen die Protestanten im Osten in einem realen Überlebenskampf. Die einen sahen ihre theologischen Denkgebäude bedroht, die anderen waren in ihrer Frömmigkeitsausübung beeinträchtigt.

Aufschlussreich ist auch die Darstellung der ökumenischen Entwicklungen hin zu einer Institutionalisierung des weltweiten Christentums. Demgegenüber hätte man sich das mit «Gesellschaft» überschrieben Kapitel etwas umfangreicher gewünscht. Themen wie das kirchliche Familienbild und die Individual- und Sexualethik des kirchlichen Protestantismus werden nur am Rande gestreift. Das ist ein wenig bedauerlich, denn «zumindest in den frühen fünfziger Jahren [...] gingen Vertreter der Kirche recht ungebrochen davon aus, dass sie aufgrund der Kenntnis der Offenbarung am besten wüssten, was für den einzelnen ebenso wie für die Allgemeinheit das Beste sei» (339f). Es wäre interessant gewesen, Zeugnisse dieser Selbstgewissheit zu analysieren.

«Das ist aber trockene Lektüre», sagte ein Mitreisender als ich das Buch auf einer Bahnfahrt las. Mitnichten! Es ist überwiegend spannender Lesestoff, der darauf hoffen lässt, dass es aus der Feder Martin Greschats eine Fortsetzung über die Geschichte des Protestantismus in beiden deutschen Staaten in den 1960er Jahren und darüber hinaus gibt.

Zitierweise:
Claudius Kienzle: Rezension zu: Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963, Paderborn, Ferdinand Schöningh 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 748-749.